Kurts 1662 Tage

– ein Tagebuch aus dem 1. Weltkrieg

Ein schöner Frühlingstag im Zeichen der wechselvollsten Gemütsstimmungen. Als Burger von der Abgabe der Post zurückkommt, überrascht er uns mit der Mitteilung: Von morgen ab geht kein Brief mehr ab, welchen nicht ein Offizier durchgelesen hat. Hierüber herrschte, namentlich unter den älteren, verheirateten Leuten eine große Mißstimmung. Diese Anordnung kommt einem Schreibverbot ziemlich nahe, weil alle die Kameraden, welche daheim Familiensorgen und sonstige Geheimnisse intimster aber für die Allgemeinheit gleichgültigster Art haben, sich darüber mit ihren Lieben nicht mehr verständigen können, weil sie die Preisgabe an Dritte geniert. Die mannigfachsten Vermutungen werden als Grund für diese Maßregel vorgebracht. Ich halte mich zu denen, welche darin das Zeichen einer bevor stehende Operation erblicken, und glauben, daß der Zustand ein vorübergehender ist und rate den allzu aufgeregten vorläufig die Entwicklung abzuwarten. Es wird ja nichts so heiß gegessen, wie gekocht. Aller Trübsinn wurde am Nachmittag durch die Nachricht verscheucht, daß sich die Summe der im Osten Gefangenen auf über 100000 Mann 170 Geschütze und zahlreiches, unüberschaubares Material erhöht hat. Ein kommandierender General,
2 Divisionsführer und 4 weitere Generäle befinden sich unter den Gefangenen. Bald wehten wieder die deutschen Fahnen an von uns belegten Gebäuden und von 6-6:30 läuteten alle Glocken. Ich nahm mir die Zeit zu einem Spaziergang nach der öde und verlassen daliegenden kleinen Gasanstalt. Von dort aus hörte sich das Geläut der Glocken aus mehreren Dörfern recht feierlich an. Im Walde, in den Gärten, auf den Wiesen, das Erwachen der schlafenden Natur, welches mich an einen Osterspaziergang erinnert. Die Glocken verkünden allerdings heute anstatt der Auferstehung unseres Heilandes einen Sieg, den Sieg deutscher Waffen, deutschen Geistes. Doch groß sind die Gegensätze im Menschenleben. Hier Freude über den Sieg und von der Revierstube aus ein Trauerzug. Unter dem Glockenklang, trug man den an seiner Verwundung gestorbenen Kameraden von Batl. 46 hinaus an den Wald vor Petitmont, wo er neben meinem einstigen Kameraden Wolf zur letzten Ruhe gebettet wurde.

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