Kurts 1662 Tage

– ein Tagebuch aus dem 1. Weltkrieg

Am 2 Uhr morgens wurde geweckt und 2:30 gestellt. Die Ausrückestärke unserer kriegsstarken Komp. betrug:
1 Hauptmann (Res.)
2 eingetr. Offizierstellvertreter
1 aktiv. Offiziersstellvertreter
1 Vizefeldwebel
16 Unteroffiziere
1 Feldwebel
210 Gefreite und Grenadiere
Um 3 Uhr morgens marschierten wir durch das Tor der uns lieb gewordenen Kaserne einem ungewissen Schicksal entgegen. Es war noch dunkel. Ich lief mit Burger neben dem Packwagen. Auf der Forststraße stand Max welcher auf mich stundenlang gewartet hatte. Auf der Bautzenerstraße trat plötzlich eine Stockung im Wagenverkehr ein, wobei die Hinterwand unseres Packwagens durch die Deichsel des folgenden eingerammt wurde. Nur ein rascher Seitensprung schützte mich hierbei vor einem Unfall. Trotz der frühen Stunde hatten sich auf den Straßen und dem Bahnhof Leute zur Verabschiedung von ihren unter uns weilenden Lieben eingefunden. Durch holde Damenhand wurden uns Blumen gereicht, sodaß wir geschmückt wie kein Festzuge einer Schützengilde auf dem Neustädter Güterbahnhofe eintrafen. Dort verabschiedete ich mich von meinen Jugendfreunde Max mit dem Gedanken: Wie werden wir uns wiedersehen? Oder sollte es gar der letzte Händedruck in der Vaterstadt sein? Mit Leid erfüllte, es mich, daß ich wegen des plötzlichen Abrückens meinen Eltern und Bruder nicht noch ein „Lebt wohl“ sagen konnte. Doch wozu unnütze Gedanken. Bald waren wir in den bereitstehenden Viehwagen untergebracht, deren jeder 48 Mann
fasste. Ich ging mit Burger in den letzten, der nicht ganz voll wurde. 6:30 morgens setzte sich der Zug in Bewegung. Unter dem Gesange des Liedes „Weh, daß wir scheiden müssen“ ging es hinaus, über Pieschen, Radebeul. Noch einmal winkten die heimatlichen Höhen, die Kirche von Briesnitz, die Baumbluthänge von Cossebaude, der Osterberg und all die Schönheiten der Heimat. Im Fluge verschwindet alles. Schon sind wir in der alten Residenz der Wettiner, in Meißen. Stolz erhebt sich die Albrechtsburg über der im Morgensonnenschein besonders schönen Stadt des sauren Weines. Wir glaubten bis jetzt, es ginge nach Leipzig, doch über die Meißner Elbrücke nahmen wir
den Kurs nach Nossen. Dies war mir eine unbekannte Linie, durch eine der schönsten Gegenden unseres lieben Sachsenlandes gelangten wir nach Döbeln und von dort nach Waldheim. Unterwegs wehten aus allen Fenstern, an allen Straßenübergängen die Taschentücher der Daheimbleibenden. In Waldheim, wurde das Signal Aussteigen gegeben. Auf dem als Speisesaal hergerichteten Güterboden, erhielten wir das aus
Reis und Rindfleisch bestehende Mittagessen. Die Austeilung erfolgte sehr rasch. Die ganze Einrichtung war sehr sauber und appetitlich das Essen gut zubereitet. Nach 1/2
stündigem Aufenthalte ging es weiter nach Chemnitz zu. Unterwegs wurden zahlreiche Telegramme aufgegeben, welche die in den vor uns liegenden Stationen wohnhaften Angehörigen noch ein letztes mal auf den Bahnhof rufen sollten. In Chemnitz hatten sich bereits eine große Anzahl auf diese Weise Herangerufener eingefunden. Mit fröhlichem Lachen, Brust und Mütze mit Rosen geschmückt, schied mein Freund Wolf von seinen wartenden Eltern. Er konnte ja als Brigadeschreiber auf eine Heimkehr rechnen. Viele hilfsbereite Hände verteilten Würstchen und Semmeln unter uns, dies wurde auf den folgenden Stationen immer reichlicher. Wir erhielten so viele Gaben der Liebe, daß die im Wagen befindlichen Kommisbrote nicht angerührt wurden, hier gabs Schokolade, dort Schinken, auf dem nächsten Haltepunkt Postkarten usw. Ich benutzte jeden Halt um eine Karte in den Kasten zu werfen, welche nur Grüße aus dem betr. Ort enthielt. Wenn sie alle ankommen, konnte man daraus die Fahrtrichtung erkennen. In Meerane wartete die Frau meines Kameraden Burger, welcher der Abschied recht schwer wurde. Je weiter wir in das Vogland kamen desto mehr war die Bevölkerung zum
Abschiede, herbeigeeilt. Alle die ihren Sonntagsspaziergang an der Bahn lang machten, alle die aus den Fenstern der Häuser den Militarzug vorüber sausen sahen, alle winkten. Es war eine förmliche Begeisterung und führte auch in uns zur fröhlichsten Stimmung. All die lieben Heimats-, Soldaten- und Vaterlandslieder erschallten im Zuge und niemand dachte an das ernste Ziel, besondere Freude erregte es, als ein findiger Bahnwärter, seinem vorüberfahrenden Sohne als letzten Liebesgruß mit Hilfe einer langen Stange eine Wurst, in den fahrenden Wagen reichte. So gelangten wir in der gehobensten Stimmung in Hof an, wo der Zug verlassen wurde, wir als Abendessen wieder Reis und Rindfleisch erhielten. Viele wollten hier ein Glas Bayrisch trinken, doch es gab ebenso wie in Sachsen keinerlei alkoholischen Getränke. Nachdem wir uns in Hof etwa 1 Stunde verweilt hatten ging die Fahrt weiter. Die Dunkelheit war eingetreten, daher schlossen wir alle Öffnungen im Wagen und richteten uns zum Schlafen ein. Wir
legten uns abwechselnd lang auf die Bank oder schliefen im Sitzen.

2 Antworten zu „Sonntag 16. August 1914”.

  1. […] 16. August 1914 „In Chemnitz hatten sich bereits eine große Anzahl auf diese Weise Herangerufener eingefunden. Mit fröhlichem Lachen, Brust und Mütze mit Rosen geschmückt, schied mein Freund Wolf von seinen wartenden Eltern. Er konnte ja als Brigadeschreiber auf eine Heimkehr rechnen.“ […]

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  2. […] Monaten im Wald in den Vogesen irgendwo in der Nähe des Dorfes Angomont. Zwischendurch hat er die Zugfahrt von Dresden nach Straßburg detailliert beschrieben. Fast wie ein Tourist zählte der die Orte auf […]

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